Kinderlieder und Kindertänze in den Kempen

Als ich vor etwa siebzehn Jahren anfing, mich für das traditionelle Lied, das Volkslied zu interessieren, war meine Aufmerksamkeit auf das Lied der Erwachsenen gerichtet. Auch unter meinen Verwandten wurden noch viele Lieder gesungen. Als aber die ältesten Onkel starben, waren auch die Lieder mit den Sängern verschwunden. Ich versuchte, die Lieder nachtraglich festzulegen; darüber hinaus begann ich, die Lieder der Familienmitglieder, die noch am Leben waren, der Nachbarsleute und der alten Dorfbewohner aufzunehmen. Jede Woche besuchte ich etwa 5 bis 8 Personen.

Schon bald stellte sich heraus, daß meine Sammlung einen bedeutenden Wert wegen der notierten Angaben hatte. Deshalb fing ich an, systematischer zu sammeln und mir die Frage zu stellen, was ich damit erreichen wollte. In dieser Zeit besuchte ich zufälligerweise eine alte Frau, die 'nur' Kinderlieder kannte. Ich entschloß mich, sie aufzunehmen. Und so gerieten die ersten Kinderlieder in meine Sammlung. Getroffen von der Funktionalität der Lieder und ihrem Klangreichtum, fragte ich bei meinen Besuchen immer mehr nach Liedern aus der Kinderzeit.

1978 erschien mein erstes Buch 'Liederen en Dansen uit de Kempen' mit einer Auswahl von mehr als 400 Liedern aus den niederländischen Kempen und einem Teil der belgischen Kempen; die Kempen sind der südliche Teil Nord-Brabants. Das Buch wurde herausgegeben von der Stiftung 'Brabants Heem', die sich mit der heimatkundlichen Forschung in der Provinz Nord-Brabant beschäftigt. Auf Anregung dieser Stiftung und der Provinzialverwaltung stellte mich der Unterrichtsminister zwei Tage pro Woche von meinem Schuldienst frei, urn das Volkslied in der Provinz NordBrabant inventarisieren zu können. Bis jetzt sind rnehr als 7000 Lieder auf Tonbändern aufgezeichnet worden; ein grosser Teil ist schon transkribiert und zur Veröffentlichung vorbereitet. 453 verschiedene Kinderlieder, namentlich Kinderspiellieder sind bis jetzt notiert worden.

Weil die Mehrzahl der Sänger und Sängerinnen (etwa 90%) älter als 65 Jahre ist, datieren die meisten Lieder aus den Anfangsjahren dieses Jahrhunderts. Ich fragte mich, inwiefern dieses Liedmaterial totes Liedmaterial sei; deshalb entschloß ich mich, das Spielliederrepertoire der Kinder der Grundschule unseres Dorfes Weebosch zu untersuchen. Auf diese Weise sollen die Veränderungen im Sing- und Spielrepertoire der Kinder seit den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts festgestellt werden, auch wenn die Untersuchung wegen ihres stichprobenhaften Charakters nicht repräsentativ sein kann für die ganze Provinz. Aus praktischen Gründen wählte ich meine eigene Schule; der Kontakt mit den Kindern war kein Problem, so daß die Schulkinder ihre Lieder ganz unbefangen mitteilten, spielten und sangen.

Die soziale Struktur unseres Dorfes ist, wie in fast allen Kempischen Dörfern vor 50/60 Jahren, noch überwiegend bäuerlich. Das Dorf hat kaum 700 Einwohner; es liegt mehr oder weniger isoliert nahe der belgischen Grenze inmitten von Feldern und Wäldern. Es war meine Absicht, nur die Lieder aufzunehmen, die die etwa 65 Kinder der vier höchsten Klassen von ihren Eltern oder von einander gelernt hatten. Die Lieder, die sie in der Schule während der Singstunde eingeübt hatten, wurden außer Betracht gelassen. Erwartet wurden etwa 16 bis 17 Spiellieder.

Tatsächlich aber sang und spielte die kleine Gruppe nicht weniger als 79 Spiellieder. Alle Lieder wurden auf Tonband aufgenommen, zum Teil in Stereo. Die Spielhandlungen und Bewegungen, die Gruppenzusammensetzung usw. wurden notiert, ergänzt durch Fotoaufnahmen. Die Untersuchung fesselte auch die Kinder; deshalb wurden die Lieder zusammengestellt und jedem Kind ein Exemplar der Liedsammlung zur Verfugung gestellt.

Obwohl das Kinderlied, die Kinderpoesie und das Kinderspiel in enger Beziehung zu einander stehen, habe ich im Rahmen meiner Volkslieduntersuchung nur die Kinderlieder registriert: Lieder, zu denen eine Melodie gehört, die wesentlich ist für das Spiel; Lieder, bei denen das Spiel meistens auch zum Wesentlichen gehört; Lieder auch, bei denen man die kindliche Poesie bewundern kann. Die Lieder der Weeboscher Jugend habe ich wie folgt eingeteilt:

Reihelieder, wobei man sich in Reihen gegenüber steht bzw. wobei ein Kind einer ganzen Reihe gegenübersteht.
Hüpflieder, gesungen beim Seilhüpfen.
Spiele im Kreis, wobei man im Kreise tanzt und ein Kind oder mehrere Kinder im Kreise sind. Auch Lieder mit Auflösung des Kreises sind dabei.
Klatschlieder, wobei die Kinder sich gegenseitig in die Hände klatschen. Abzähllieder, also Abzählreime, die gesungen werden.
Singlieder, die man z. B. bei schönem Wetter unter einem Baum oder an der Schulmauer sitzend singt.
Ballspiellieder und
Kettenlieder.

Von den 79 Liedern waren 18 Reihelieder (23%), 17 Hüpflieder (22%), 9 Lieder im Kreis (11%), 9 Klatschlieder und 9 Abzähllieder (beide 11%), 5 Singlieder und 5 Fanglieder (beide 6%), 3 Ballspiellieder und 3 Kettenlieder (beide 4%), 1 weiteres Lied.

Als erstes fiel auf, daß es viele neue Lieder gab, und zwar 17 von den 79. Darunter 7 Reihelieder, 7 Klatschlieder, 1 Abzähllied, 1 Kettenlied und 1 Lied außer den genannten Kategorien. Also keine neuen Seilhüpflieder, bei den Älteren wie bei den Jugendlichen sehr beliebt, keine neuen Spiellieder im Kreis, keine Sing-, Ballspiel- und Fanglieder. Auffallend war die große Anzahl der neuen Klatschlieder; von den insgesamt 9 Klatschliedern waren 7 neu. Neben den Klatschliedern sind die Reihelieder bei den Kindern die beliebtesten.

Von den neuen Liedern beruhen 4 auf Schlagermelodien, von den Kindern vereinfacht, die melodischen Sätze beschränkend, damit sie in ihr Liedbild paßten. Ein Beispiel: Der Tonumfang des Liedes 'De Koninklijke marine' ist zu groß.





Im Kinderlied wird der erste Melodiesatz wiederholt, ermöglicht durch den rhythmisch gleichen Satzbau der zweiten Zeile. Auch der Text hat sich geändert:





Der Schluß dieses Liedes ist wieder einem alten Lied entnommen. Bei insgesamt 2 neuen Liedern wurde ein Fragment eines älteren Kinderliedes hinzugefugt.

Was man bei den älteren Liedern nicht findet, ist die Verwendung der englischen Sprache. Auch hier ist sie wie bei vielem durchgedrungen. Sogar 7 von den 17 neuen Liedern enthalten englische oder umgeformte englische Wörter, hie und da sogar englische Sätze. Ein Beispiel: Ein Twist-Lied 'Twits', wie die Kinder sagen:





Das Lied hat viele Synkopen. In nicht weniger als 11 neuen Liedern begegnen uns solche Zusammenziehungen, in den älteren Liedern eine nahezu unbekannte Erscheinung. Auch der Tonumfang dieses Liedes ist klein und besteht aus 4 Tönen. Die meisten neuen Lieder hatten wie die alten einen Umfang von 6 Tönen oder weniger. Bis vor etwa 25 Jahren spielten die Mädchen und Jungen in unserem Dorf ihre jeweils eigenen Spiele. Nur die Mädchen sangen zu ihrem Spiel. Jetzt aber spielen die Jungen und Mädchen miteinander; die Jungen hüpfen mit dem Seil und tanzen im Kreis wie die Mädchen. In den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts war das nicht der Fall. Folglich konnte ich die alten Lieder, d. h. Spiellieder nur bei Frauen aufnehmen.

Sieben Jahre später, im Jahre 1985, untersuchte ich, wieviele Lieder von den Kindern, die jetzt zur Schule gehen, noch gesungen und gespielt wurden. Die meisten neuen Lieder waren bereits nicht mehr bekannt, andere nur noch teilweise. Die alten Lieder hingegen kannte man noch am besten. Es stellte sich heraus, daß die jahrhundertealten Lieder sich noch immer behaupten.

Harrie Franken

(in Volkskultur an Rhein und Maas, 5. Jahrgang Nr. 2, 1986, blz. 23-26.)

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